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Die Fleischeslust des Vegetariers Daniel  –  Vom Versuch der Versuchung

von Angelika Wörthmüller

Heute sollte es passieren. Daniel schlüpfte in seine schwarzen Schnürschuhe. Er mochte die alten Treter, die er schon x mal beim Schuster hatte. Die seines Nachbarn von oben, den er gestern im Flur getroffen hatte, waren fraglos schicker. Die hellbeigen Ledersohlen blitzten geradezu vor Sauberkeit, als er die Treppe hoch gesprungen kam, immer zwei Stufen auf einmal. Ein kurzes Hallo zwischendurch, als sie sich begegneten. Seine dagegen hätten schon wieder eine neue Besohlung nötig. Aber dafür war heute keine Zeit, heute wollte er es wagen, heute fühlte er Mumm in den Knochen - endlich.

Daniel nahm eine dunkelgraue Wolljacke vom Garderobenständer und schlüpfte hinein. „Zeitlos modern“, hatte Heike damals gesagt, als sie sie zusammen kauften, „die kannst Du auch noch bei unserer Silberhochzeit tragen“, hatte sie hinzu gefügt, und dabei ihren Kopf so süß schief gelegt, dass ihr eine ihrer braunen Haarsträhnen ins Gesicht rutschte und ihre Zähne, die sie ihm lächelnd zeigte, kurz berührte. Nein, sie hatte keine Haare auf den Zähnen, sie war ein Goldstück gewesen, war sie eigentlich immer noch, aber jetzt war sie weg, war bei diesem anderen und der Kauf des Mantels lag schon eine halbe Ewigkeit zurück. Fünf Jahre können sich wie 50 anfühlen, wenn nichts mehr bleibt von dem, was unumstößlich schien.

Zwei Stufen auf einmal, das konnte er auch noch, jedenfalls treppabwärts. Der Himmel war bluzzeblau - schön anzusehen, aber eiskalt. Passend zur Stimmung, dachte Daniel, als er in die Wilmersdorfer Straße einbog. weiterlesen >>>